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Konzertbericht:

 Portishead @ ATP

@ Butlins, Minhead UK 07.12.2007


10 Jahre sind ins Land gegangen, in denen man von Portishead nichts als Legendenbildung, seltene Gastauftritte, ein Soloalbum von Beth Gibbons und viele Munkeleien gehört hatte. 2007 endete dieser Schlummerschlaf mit einem Anlass der Superlative: Portishead war eingeladen, das diesjährige Nightmare-before-Christmas-Festival zu kuratieren, also im Auftrag von All Tomorrows Parties (ATP) ein ganzes Line-up zusammenzustellen und natürlich auch selbst aufzutreten.

Nun liegt ja die südwestenglische Küste mit dem verschlafenen und ur-britischen Kaff Minehead und der dazugehörigen, schon etwas angegammelten Ferien- und Vergnügungssiedlung Butlins nicht gerade um die Ecke - da hier aber während dreier Tage die Erweckung einer der legendärsten Bands und die Defilierung eines bunt gemischten Band-Line-ups stattfinden sollte, beschlossen wir, die Reise über den Kanal auf uns zu nehmen.


Entgegen der vielleicht mancherorts gehegten Erwartung hatten Portishead nicht etwa ein prototypisches Trip-Hop-Programm zusammengestellt, sondern VertreterInnen aus Country, Folk, Indie, Drone, Experimental, Hip-Hop und Elektro antreten lassen. So war das Teilnehmen an dieser breiten Palette oft auch weniger eine entspannte Genussfahrt, sondern eher eine ausgereifte Safari durch manchmal unwegsames Gelände jenseits der eigenen Hörgewohnheiten - und seien wir ehrlich: Manch ein Act stellte für den einen oder anderen eine gehörige Überforderung dar, die vielleicht unter "musikalische Horizonterweiterung", aber nicht unter "Tongenuss" abgebucht werden kann... - Ich muss dies bei OM und Sunn 0))) eingestehen. Gleichzeitig habe ich aber auch viel Neues entdeckt und die Erkenntnis gewonnen, dass wohl nicht nur visuelle Kunst mit Gewinn ertragen wird, auch wenn sie die Sinne nicht unmittelbar erfreut, sondern dass es sich auch bei Musik lohnt, mal ein Konzert "durchzustehen" und im Endeffekt weiterzukommen - nicht im Sinne eines Genusses, aber durch die Ausweitung des eigenen musikalischen Verständnisspektrums: Dies bei hoffentlich einigen Hörern erreicht zu haben, ist sicher ein Verdienst der Portishead-Regisseure, die für diese Mainstream-ferne Mélange des Festivals verantwortlich zeichnen. Im Folgenden kann nicht auf die einzelnen Performances eingegangen werden, als sehr lohnend möchte ich aber doch Autolux, Aphex Twin, Crippled Black Phoenix, Black Mountain und Glenn Brancas "New Works for Guitars erwähnen" - Letzeres ein Auftritt von ca. neun (!) Gitarristen, unter anderem Thurston Moore, John Parish und die beiden Portishead-Saitenzupfer.


Portishead selbst traten (wie Aphex Twin) aus tontechnischen Gründen nicht auf der grössten Bühne auf - zum Glück, denn die atmosphärisch eher an ein Expo-Gelände erinnernde Zeltkonstruktion der Pavillon Stage zeichnete sich manchmal doch durch breiigen, hochfrequenzlastigen Sound aus. Stattdessen spielten sie auf der Centre Stage (ein Raum, der an einen Kreuzfahrtschiff-Esssaal erinnerte und gut beschallt war) zwei Konzerte, zu denen die Zuschauer per Armbandfarbe zugeteilt wurden. Die Spannung war denn am Freitagabend auch entsprechend gross - das erste komplette Live-Set seit zehn Jahren stand bevor. Die Kernmitglieder Beth Gibbons, Geoff Barrow und Adrian Utley wurden auf der Bühne durch John Baggot (Keys), Jim Barr (Bass, Gitarre) und Clive Deamer (Drums) unterstützt.
Die Band wurde vom gespannten Publikum frenetisch empfangen - zu gut tat es, diese Band endlich (wieder) live zu sehen; zudem wurde schnell klar: sie ist nicht ein Schatten ihrer selbst, sondern - dies zeigten die neuen Songs - auf der Höhe der künstlerischen Produktion. Gleich zu Beginn wurden zwei neue Tracks gespielt (Wicca, sehr rhythmisch, und Hunter), mit Mysterons folgten die ersten bekannten Töne. Hier zeichnete sich ab, dass das Set durch neue, noch ungeschliffene Nummern und alte, gut eingespielte Tracks (Glory Box, Numb, Wandering Star, Over) geprägt sein würde. Es blieb eine Mischung aus frischen, zum Teil noch etwas holprigen Experimenten und alter Souveränität, denn insgesamt wurden fünf neue Tracks gespielt, gespickt mit Vertrautem von den beiden Studioalben. Das neue Material trägt einerseits unverkennbar den Portishead-Stempel, erinnert dabei an Kraftwerk-Referenzen, noisige, zuweilen rockigere Parts à la Archive und bei akustischen Teilen klingen Erinnerungen an Beths Soloalbum an - wobei der entsprechende Track hier in einem furiosen Schlussteil endet. Wegen des erwähnten Rohzustandes der Liveversionen und den bekannten Qualitätseinbussen von Amateuraufnahmen sei an dieser Stelle dringend davon abgeraten, sich anhand der bereits online stehenden Youtube-Aufnahmen ein Bild zu machen... - sicher keine schlechten Erinnerungen für Teilnehmer, aber keine adäquaten Stimmungs- und Klangbilder.... - als Zeichen unserer Inkonsequenz findet ihr unten natürlich trotzdem ein Video des ersten Tracks.


War die Befindlichkeit des Publikums das ganze Konzert über schon ausgelassen (obwohl angenehm ruhig bei stillen Parts, z.B. bei einem nur zu dritt gespielten Song), so kannte sie beim letzten Track des Hauptsets (Cowboys) kein Halten mehr: Beth - den ganzen Auftritt über schon sichtlich gut gelaunt, wenn auch wie seit jeher oft mit dem Rücken zum Publikum - stockte plötzlich bei einem Vocal-Einsatz, wechselte schliesslich in einen Lachanfall und musste eingestehen: "I FORGOT it...!" - eines dieser Missgeschicke, das Publikum und Band nicht entzweit, sondern in der menschlichsten Regung des Patzers und seiner sympathischen Meisterung sehr nahe zusammenbringt. Unter tosendem Applaus fand sie zurück in den letzten Refrain.


Das Konzert endete mit den Zugaben Roads (Dummy) und Peaches (neuer Song). Man darf gespannt sein, wie sich die frischen Tracks auf dem für März 08 angekündigten und fertig eingespielten Album präsentieren werden und welchen Weg Portishead 2 nun geht. Potenzial und Spielfreude scheinen bei den Kernmitgliedern und den Live-Musikern zur Genüge vorhanden.
Insgesamt ein sehr lohnender Ausflug mit einigen skurrilen Begleiterscheinungen und der Erkenntnis, dass es sich bei Portishead nach wie vor um einen lebendigen Kosmos handelt, der gleichzeitig die Bodenhaftung nicht verloren hat - so lief man denn im Supermarket ab und an Mastermind Geoff über den Weg, stand bei einem Konzert unverhofft neben Adrian oder sah die beiden bei anderen Bands mitspielen (Geoff: Crippeled Black Phoenix; Adrian: The Blessing, Joe Volk, Glenn Branca).

Es sei aber gewarnt: Ins Butlins Holidaycamp müsst ihr wirklich nur, wenn ein entsprechendes Line-up dafür spricht - zum Beispiel am nächsten ATP-Festival, das im Mai von Explosions in the Sky kuratiert wird.


Tracklist:
•    Wicca
•    Hunter
•    Mysterons
•    Mystic
•    Glory Box
•    Numb
•    Wandering Star
•    Machine Gun
•    Over
•    Sour Times
•    Only you
•    Cowboys
-----------------------------------
•    Roads
•    Peaches


(w)

© Bilder: Paul Elam (cheers mate!), wanja




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Kommentar von Jacques am 11.12.2007
Danke für den ausführlichen Bericht. Bei den (schlechten) Youtube-Videos fühlte ich mich teilweise auch an Archive erinnert.

Kommentar von Kuhl am 11.12.2007
Super Bericht, konnte beim lesen nochmal das ganze Konzert sowie das restliche Festival "durchlaufen" lassen...

Kommentar von Patrice am 07.02.2008
heeeeey killer bericht ne!! gut dass ich mir die dreggsvids noch net angeschaut hab.. bin am 7 Apr. in Amsterdam :D :D :D voooool killer

Kommentar von wanja am 14.03.2008
nachtrag: was am konzert unter dem track "mystic" lief, heisst auf dem album THE RIP. auch sonst hats noch ein, zwei umbenennungen gegeben.



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