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Review: Archive

 Take My Head

(04.06.99 / Ism (Sony BMG))  

„Take My Head“ gilt heute sowohl bei Fans und Kritikern, als auch bei Archive selber als das schwächste Album der nun doch schon fünfzehnjährigen Bandgeschichte. Lohnt es sich also überhaupt, sich mit dieser Scheibe zu beschäftigen - gerade in Zeiten wo eine riesige Musikbibliothek nur einen Mausklick entfernt ist? Ich glaube ja, denn gerade die Mängel, die dem Hörer fast bei jedem Song vor Ohren geführt werden, zeigen doch, dass ein durchaus brauchbares Grundgerüst vorhanden ist, welches man verschandelt sieht. Zudem übte das Album einen grossen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Band aus, sowohl mit einigen hier erstmals in den Archive-Kosmos integrierten Songstrukturen, als auch mit dem offensichtlichen ökonomischen und künstlerischen Misserfolg, der zu Korrekturen Anlass gab.

In fast jeder Hinsicht stellt der Zweitling von Archive ein Zwischenalbum dar: Personell wurde nach Meinungsverschiedenheiten Abschied von der Sängerin Roya Arab und dem Rapper Rosko John genommen. Die übrig gebliebenen Soundteppichleger Danny Griffiths und Darius Keeler füllten die Lücke mit der Engländerin Suzanne Wooder – dies sollte aber eine Übergangslösung bleiben, denn schon beim Nachfolgealbum übernahm der die Band stark prägende Craig Walker das Mikrophon. Auch musikalisch unterscheidet sich „Take My Head“ vom restlichen Werk der Band. Vom dunklen, an Massive Attack erinnernden Trip Hop von „Londinium“ ist kaum noch etwas übrig geblieben und die Progressive-Rock-Elemente der kommenden Alben werden höchstens angetönt. Vor allem fällt aber auf, dass die für Archive typische dunkle Grundstimmung vollständig fehlt und stattdessen helle Töne und eher einfache Melodien vorherrschen, etwas was, wenn auch sehr eingeschränkt, erst wieder auf „Lights“ zutrifft.

Eröffnet wird die Platte mit „You Make Me Feel“, welches wohl dem Geschmack des Kollektivs immer noch entspricht – zumindest wurde der Song während der „Lights“-Tour regelmässig gespielt und er findet sich auch auf dem Live-Album „Live At The Zenith“ wieder. Sehr gut können anhand dieses Tracks die Stärken und Schwächen des Albums analysiert werden: Während der Kontrast zwischen den sehr zurückhaltenden Gesangspassagen und den von Gitarren und rücksichtslosen Drums getriebenen, sehr druckvollen Stellen und die Verwendung eines chinesischen Marsch-Samples ihre Wirkungen nicht verfehlen, fällt auf, dass der Aufbau eher plump und lieblos daher kommt und die Lyrics kaum flacher sein könnten (Your love is like no other/ I want no other lover/ Our love will be forever). Verglichen mit den späteren Archive-Meisterwerken wie „Again", bei welchem jeder Ton zu sitzen scheint und dem Song sehr viel Zeit eingeräumt wird, um seine Intensität zu steigern, wirken die Tracks auf „Take My Head“ unfertig. Sehr oft finden sich zwar gute Ideen, die aber nie wirklich ausgearbeitet wurden. Diese Feststellung deckt sich mit den Beschwerden des Kollektivs, welches die Einmischung des Labels auf die Fertigstellung des Albums beklagte. Wohl auch deshalb dauern alle Tracks – ganz untypisch für Archive – nur zwischen drei und fünf Minuten – wie fürs Radio geschrieben. Dass das Label nach dem Misserfolg des Albums den Vertrag einstellte, erscheint im Nachhinein als Glücksfall.

Anspieltipps sind „The Way You Love Me“, das sich zu einem pulsierenden Rhythmus langsam in die Gehörgänge einschmeichelt, „Cloud In The Sky“ der noch am ehesten an den Trip Hop von „Londinium“ erinnert und mit einem düsteren Beat brilliert, und „Take My Head“, bei welchem mit Befehle wiedergebenden Samples und dem massiven Einsatz von kreischenden Gitarren und Elektronik gearbeitet wird. Auch hier ist wie beim ersten Track ein grosser Kontrast zwischen Leise und Laut erkennbar.

Gerade die Verbindung zwischen den aufs Radio schielenden, eher poppigen Songs und dem wirtschaftlichen Flop hat sich als Segen für die Band erwiesen. Als Lehre aus diesem Misserfolg wurden die darauf folgenden Alben allesamt selber produziert und dabei wenig Rücksicht auf die Vermarktung genommen - mit viertelstündigen Songs, der Abkehr von süssen Melodien, dem Ausdrücken negativer Gefühle („Hate“, „Get Out“) statt romantischer Liebesschwüre und dem erneuten Wechsel des Musikstils. Und siehe, der Erfolg kam zurück.

(as)


Tracks:
  1. You make me feel
  2. The way you love me
  3. Brother
  4. Well known sinner
  5. The pain gets worse
  6. Woman
  7. Cloud in the sky
  8. Take my head
  9. Love in summer
  10. Rest my head on you
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